Die Lehren des Oktoberexperiments

Karl Kautsky

Der Despotismus der bolschewistischen Partei in Rußland erscheint heute kraftvoller und weniger angreifbar als je. Und doch knistert es bereits im Gebälk. Das hat erst jüngst der Fall Trotzki deutlich bewiesen. Es mag auf den ersten Blick scheinen, als habe seine rasche und mühelose Erledigung das Regime der Diktatur aufs stärkste befestigt, gezeigt, daß keine Opposition dagegen möglich ist. Gerade diese Mühelosigkeit ihrer Überwindung hat aber dargetan, wie tief innerlich verkommen der Bolschewismus bereits ist. Denn es war nicht eine Opposition von außen, deren sich die heutigen Herren Rußlands da entledigten, sondern eine Opposition aus den eigenen Reihen, die Opposition des Mannes, der mit Lenin die Diktatur geschaffen und praktisch wie theoretisch begründet hat, indes ihr die Mehrzahl der heutigen Machthaber Rußlands anfangs zagend und zaudernd gegenüberstand – aus sehr guten Gründen.

Diese Haltung der Sinowjeff und Konsorten wird deutlich bezeugt durch Trotzkis letzte Schriften "Lenin" und "1917", und noch deutlicher dadurch, daß die von ihm Angegriffenen nicht anders zu antworten wissen, als daß sie den Angreifer mundtot machen.

Aber noch eines bezeugen diese beiden Schriften und namentlich die letztgenannte: wie selbst die besten Köpfe des Bolschewismus intellektuell heruntergekommen sind.

Mit Verachtung spricht Trotzki vom "parlamentarischen Kretinismus" der Sozialdemokratie, worunter er jedes Interesse für parlamentarische Verhandlungen, sowie jede Teilnahme an solchen versteht.

Engels, der das Wort aufgebracht hat, verstand darunter etwas anderes: die Beschränktheit mancher Parlamentarier, die glauben, "daß die ganze Welt, ihre Geschichte und ihre Zukunft durch eine Majorität von Stimmen in dem besonderen Vertretungskörper gelenkt und bestimmt werden, der die Ehre hat, sie zu seinen Mitgliedern zu zählen." (Revolution und Konterrevolution in Deutschland, S. 107, 108. Erschienen unter dem Namen von Marx, aber geschrieben zum überwiegenden Teil von Engels.)

Eine derartige Überschätzung des eigenen Tätigkeitsgebietes ist nicht nur Parlamentariern eigen. Auf jedem Felde menschlichen Tuns kann man bei beschränkten Köpfen die gleiche Selbstüberhebung beobachten.

Seitdem Trotzki in den Kampf um die Macht eingetreten und dann an die Macht gekommen ist, hat auch ihn ein Kretinismus (in dem hier gekennzeichneten Sinne) befallen. Allerdings nicht ein parlamentarischer. Der seine ist anderer Art: er ist ein militaristischer. Trotzki glaubt, alle Probleme, an denen unsere Zeit krankt, ließen sich mit den Mitteln militärischer Macht lösen. Er wollte schließlich sogar die stockende Produktion Sowjetrußlands dadurch in Gang bringen, daß er sie rücksichtslos militarisierte. Und doch stockte sie gerade deshalb, weil bereits zu viel von militaristischem Geist in der Verwaltung des Staates und der verstaatlichten Industrie herrschte. Trotzki ist denn auch mit seiner Militarisierung der Arbeit elend gescheitert.

Das hat ihn nicht klüger gemacht. Er glaubt immer noch, mit militarischer Macht vermöge man alles. In seinem jüngsten Buche will er "die Lehren der Revolution" ziehen, aber keinerlei ökonomische oder soziale Momente kommen dabei für ihn in Betracht, sondern nur militaristische. Einmal spricht er sogar allen Ernstes von der Zusammenstellung "eines Reglements des Bürgerkriegs" (S. 68 der deutschen Ausgabe, erschienen bei E. Laub, Berlin).

An anderer Stelle sagt er: "Es ist notwendig, an die Probleme des Bürgerkriegs und insbesondere des bewaffneten Aufstands ganz anders heranzutreten, als es bisher der Fall war. Mit Lenin wiederholen wir oft die Worte Marx', daß der Aufstand eine Kunst ist. Dieser Gedanke wird aber zur leeren Phrase, wenn der Formulierung Marx' nicht gleichzeitig durch das Studium der Grundelemente der Kunst des Bürgerkriegs auf Grund der gigantischen Erfahrungen, die wir in den letzten Jahren gesammelt haben, Inhalt gegeben wird." (S. 75.)

Es ist richtig, Engels (nicht Marx, in dem schon zitierten Buche über Revolution und Konterrevolution in Deutschland S. 117) sagt: "Der Aufstand ist eine Kunst, ebenso wie der Krieg oder andere Künste, und gewissen Regeln unterworfen."

Aber diese Regeln erscheinen Engels sehr einfach. Er denkt nicht daran, ein Dienstreglement für die Revolution auszuarbeiten. Dieser Regeln gibt es für Engels nur zwei: "Erstens dart man nie mit dem Aufstand spielen, wenn man nicht entschlossen ist, allen Konsequenzen des Spiels Trotz zu bieten." Dieser Paragraph aus dem Dienstreglement der Revolution wäre jedem Mitglied der kommunistischen Internationale dringend ans Herz zu legen.

Und weiter sagt Engels: "Zweitens, ist der Aufstand einmal begonnen, dann handle man mit der größten Entschiedenheit und ergreife die Offensive."

Das ist heute noch ein vollständig unanfechtbarer Grundsatz, der aber natürlich erst gilt, sobald der "Aufstand einmal begonnen" hat. Davon handelt aber Trotzki in seinem Buche gar nicht. Die "Kunst des Aufstandes" ist ihm vielmehr die Kunst, einen Aufstand ins Leben zu rufen. Davon handelt wieder Engels nicht. Dieser erörtert die Frage, wie man sich im Aufstand verhalten soll, im Zusammenhang mit den deutschen Erhebungen von 1849, die alle spontan ausbrachen, aus der Situation, der Gefährdung der Reichsverfassung und der Nationalversammlung durch die Reaktion heraus entstanden, also, um mit Trotzki zu reden, aus "parlamentarischem Kretinismus". Alle Verteidiger der Nationalversammlung hielten in jenem Moment zusammen, Engels schloß sich dem Aufstand der badischen kleinbürgerlichen Demokraten an, wurde also, um die bolschewistische Phraseologie zu gebrauchen, ein "Lakai der Bourgeoisie."

Trotzki untersucht dagegen nicht nur die Kunst, einen Aufstand zu inszenieren, es ist auch ein Aufstand ganz eigener Art, dessen Künste er da entwickelt; ein Aufstand nicht gegen die Konterrevolution, bei dem alle Verfechter der Revolution zusammen wirken, sondern ein Aufstand gegen die anderen Revolutionäre, die niedergeworfen werden sollen, weil sie sich von Lenin und Trotzki nicht kommandieren lassen wollen.

Die Teilnahme an einem solchen Aufstand hätte Engels mit Entrüstung zurückgewiesen – und Marx nicht minder. Sagten sie doch im Kommunistischen Manifest: "Die Kommunisten sind keine besondere Partei gegenüber den anderen Arbeiterparteien." Sie waren die entschiedensten Feinde des Sektierertums innerhalb der großen Klassenpartei, die sie anstrebten. Sie sahen in der Sektiererei ein Zeichen von Unreife der Arbeiterbewegung.

Lenin und Trotzki haben nicht nur dieses Zeichen der Unreife ihrer Bewegung zu ihrem wichtigsten Prinzip erhoben und aus dem Bolschewismus die intoleranteste aller Sekten gemacht, sie sind eitergegangen, als bisher die unreifste der sozialistischen Sekten je ging: sie haben den bewaffneten Aufstand ihrer Sekte gegen alle anderen Arbeiterparteien propagiert und inszeniert – wie Trotzki zeigt, zuerst im Gegensatz zu einem erheblichen Teil ihrer eigenen Anhänger, die gegen eine solche Art Bürgerkrieg mit Recht Bedenken trugen, solange sie nicht selbst den Reiz der Macht gekostet hatten. Wer die Kunst dieses Aufstandes übt, der darf sich in keiner Weise auf Engels oder Marx berufen. Eine solche Erhebung konnte auch nie aus einer spontanen Aktion der Massen hervorgehen und, wie Trotzki selbst zeigt, war eine wesentliche Bedingung seines Erfolges die Irreführung der Massen über das Ziel der Aktion und die Einschläferung der anderen Sozialisten, mit denen ein Teil der Bolschewiks freundschaftlich verhandelte, während der andere Teil gleichzeitig Maschinengewehre gegen sie herbeischaffte. Trotzki bringt es fertig, die Menschewiks zu höhnen, weil sie Vertrauen in die Ehrlichkeit der Bolschewiks setzten.

Was im Oktober 1917 in Petersburg vor sich ging, war eben keine spontane Erhebung der Massen, wie die des Februar des gleichen Jahres, sondern ein Staatsstreich, den Lenin und Trotzki für sich inszenierten, ganz nach altrussischem Muster. Es ist die Kunst solcher Staatsstreiche, von der Trotzki meint, er verstehe sie besser als ein anderer. Sein Erfolg beweist nicht, daß dies der Weg zum Sozialismus sei, den das Proletariat überall zu gehen hat, sondern nur, daß Rußland heute in manchen Dingen noch nicht weiter ist als unter Katharina II.

Es zeugt von Trotzkis militaristischem Kretinismus, daß er wähnt, man brauche nur das Reglement für solche Aufstände zu kennen, um sie nach Belieben überall und zu jeder Zeit herbeiführen zu können. Wenn es noch nicht zur Weltrevolution gekommen ist, liegt es offenbar daran, daß das Reglement noch immer nicht fertig ist.

Er sieht nicht, daß der Erfolg des Staatsstreichs von 1917 durch Bedingungen ganz eigener Art herbeigeführt wurde, wie sie auch damals nur in Rußland bestanden und heute in keinem Lande der Welt, wenigstens nicht der kapitalistischen Welt, bestehen. Es ist eine unglaubliche Beschränktheit, zu meinen, aus den Künsten des Oktoberumsturzes von 1917 ließen sich irgendwelche Lehren für das internationale Proletariat gewinnen.

Wo die eigentlichen Lehren aus diesem Umsturz zu ziehen sind, das ist Trotzki bis heute noch nicht zum Bewußtsein gekommen. Er meint: "Zum Studium der Gesetze und Methoden der proletarischen Revolution gibt es bis heute keine wichtigere und tiefere Quelle als unser Oktoberexperiment." (S. 14.) Die proletarische Revolution aber ist ihm identisch mit der "bewaffneten Ergreifung der Macht".

Ergreifung der Macht durch wen? Durch das Proletariat? Trotzki selbst halt das russische Proletariat nicht für fähig, die Staatsmacht zu behaupten. Er spricht nur von der "Organisierung des proletarischen Vortrupps" für den bewaffneten Aufstand. Darunter meint er die Kommunistische Partei. Aber diese selbst war, wie Trotzki zeigt, im Oktober gespalten. Außer Lenin und Trotzki hegten so gut wie alle Führer des Bolschewismus damals Bedenken gegen den Aufstand. So reduziert sich schließlich die "proletarische Revolution" auf die Ergreifung der Macht durch die Kommandanten des Vortrupps: Lenin und Trotzki.

Haben darum alle die Denker und Kampfer des russischen Sozialismus von Tschernischewsky bis Plechanoff gerungen, haben darum alle seine unzähligen Märtyrer ihr Blut vergossen, um Lenin und Trotzki die Alleinherrschaft zu verschaffen? Nein, sie wollten Rußland befreien und dort Zustände schaffen, die es ermöglichten, im Proletariat Kraft und Reife zu entwickeln, auf daß es sich selbst zu befreien vermöge.

Daß das die Aufgabe der proletarischen Revolution sei, wußten im Oktober 1917 noch die Mehrzahl der Bolschewiks selbst, und sie waren deshalb gegen die Machtergreifung, die Lenin und Trotzki planten; nicht, weil sie gegen die Machtergreifung durch das Proletariat überhaupt waren, was ein Unsinn wäre, sondern weil sie gegen die Art waren, in der jene beiden die Machtergreifung planten, weil sie voraussahen, daraus könne für Rußland und auch für sein Proletariat nur Unheil erwachsen, wie die von Trotzki angeführten Äußerungen Sinowjeffs, Losowskys und anderer beweisen, von welchen "erfahrenen Revolutionären, alten Bolschewiken" Trotzki anklagend erklärt, sie hätten in der "allerkritischsten Periode" einen im Grunde genommen sozialdemokratischen Standpunkt eingenommen (S. 76).

Es war der Standpunkt, den die ganze sozialistische und revolutionäre Bewegung bis dahin eingenommen hatte. Erst als sie ans Ruder gelangten, vergaßen jene zaudernden Bolschewiks, wie so mancher siegreiche Revolutionär vor ihnen, den die Macht berauschte, ihre Vergangenheit und alle Erkenntnis, die sie beseelte, solange sie selbst schwere Kampfe gegen die Macht zu führen hatten.

Nur um die persönliche Macht, nicht um die Machtergreifung durch das Proletariat handelte es sich im Grunde in den Oktobertagen für Lenin und Trotzki.

Immer wieder weist Trotzki darauf hin, daß Lenin damais mit Recht gesagt habe: Jetzt oder nie. Und in der Tat mag er darin Recht gehabt haben, wenn das Ziel nur die Eroberung der Allmacht für Lenin war. Dafür waren wohl die Bedingungen nur in dem Chaos vom Oktober 1917 gegeben. Sobald dieser kritische Moment vorüber war, ware es vielleicht Lenin nie wieder möglich gewesen, die Alleinherrschaft an sich zu reißen. Aber es ware lächerlich gewesen, vom Standpunkt der Machtergreifung durch das Proletariat im Oktober zu sagen: "Jetzt oder nie!" In allen industriellen Ländern muß das Proletariat mit der Industrie selbst unaufhaltsam zunehmen an Kraft und Reife, und sein schließlicher Sieg ist unvermeidlich. Und dieser Sieg, der hervorgeht aus den Kämpfen zahlloser Millionen, kann nicht davon abhängen, ob irgendein einzelner Mann den richtigen Moment dafür erhascht oder nicht.

Übrigens, welche Inkonsequenz, auf der einen Seite zu sagen, in Rußland habe es nur eine einzige besondere Situation gegeben, einen einzigen Moment, der nie wiederkehre, um im Aufstand die Macht für die Kommunisten zu erobern; für die Weltrevolution kehre hingegen der richtige Moment dafür alle Augenblicke wieder!

Im Jahre 1917 konnte Lenin bei seinem, wie sich jetzt herausstellt, ebenso primitiven wie hochgradigen Utopismus noch meinen, wenn er nur die Macht erobere, sei für das Proletariat alles gewonnen. Er werde schon die neue Gesellschaft mit einigen wuchtigen Hammerschlägen zurechtzimmern.

Aber heute noch, nach den Erfahrungen der letzten sieben Jahre, zu glauben, das Zentralproblem des Sozialismus bestehe bloß in der Frage, wie man die Macht erobere, ohne Rucksicht auf die Mittel, die Ziele, die Bedingungen dieser Eroberung – heute noch von den Lehren des "Oktoberexperiments" sprechen und dabei nur die Frage des militärischen Sieges der eigenen Sekte oder vielmehr ihres Oberkommandos erörtern, ohne den geringsten Hinweis auf die damaligen ökonomischen und sozialen Bedingungen, das zeugt von einem geradezu erschreckenden militaristischen Kretinismus. Dem Militär handelt es sich nur darum, den Gegner niederzuschlagen, seine Hilfsmittel zu vernichten und in der eigenen Armee blinden Gehorsam aller Untergebenen aufrechtzuerhalten. Um alles weitere kümmert er sich nicht.

Und genau so denkt heute Trotzki. Es fällt ihm nicht ein, daß es nötig sei, zu untersuchen, ob nicht die "Sozialdemokraten", "Menschewiks", "Helfershelfer der Bourgeoisie" in den eigenen Reihen, die er anklagt, vielleicht im Grunde recht hatten, wenn sie im Staatsstreich gegen die sozialistischen Bruderparteien eine Gefahr für den Aufstieg Rußlands und seines Proletariats sahen, mögen sie sich auch heute ihrer damaligen Vernünftigkeit schämen. Wohl sprechen die Tatsachen heute eine Sprache, die nicht mißzuverstehen ist und die immer deutlicher zeigt, in welche "Sackgasse", um mit Weressajeff zu reden, Rußland und seine arbeitenden Klassen durch das "Oktoberexperiment" geraten sind. Die heutigen Besitzer der Macht dort wissen nicht ein noch aus. Indem sie zu den widersprechendsten Mitteln greifen, gleichzeitig das Vertrauen der Kapitalisten und Regierungen des Auslands zu gewinnen suchen, um Anleihen zu ergattern, und die Austilgung dieser Regierungen und Kapitalisten durch die Weltrevolution propagieren, kommen sie immer tiefer in den Sumpf.

Wer ökonomisch denkt, wird das "Oktoberexperiment" keineswegs gelungen finden. Militärisch allerdings ist es gelungen. Alle Gegner im Innern Rußlands sind niedergeschlagen und innerhalb nicht nur der Bevölkerung, sondern auch der Roten Armee und der Kommunistischen Partei selbst ist der Kadavergehorsam der Untergebenen restlos durchgesetzt.

Und dennoch wird heute Trotzki über das "Oktoberexperiment" nicht mehr ganz so günstig denken wie noch vor wenigen Monaten, als er seine letzten Schriften schrieb. Und er wird vielleicht einige Lehren in diesem Experiment entdecken, die ihm bis dahin verborgen geblieben waren.

Das Zentralproblem in den Oktobertagen war ihm die Ergreifung der Macht, der persönlichen Macht. Es schien glänzend gelungen, Lenin und Trotzki wurden die Alleinherrscher, denen sich alles beugte. Trotzki selbst hat am meisten dazu beigetragen, jenen furchtbaren Herrschaftsapparat aufzubauen, dessen Räderwerk jeden zermalmt, der sich anschickt, den Machthabern Trotz zu bieten. Aber siehe da! Wegen, wie es scheint, rein persönlicher Differenzen gerät der Anbeter der Macht in Konflikt mit seinen Kollegen, die sich nach Lenins Ausscheiden aus den Regierungsgeschäften an der Spitze des Staates breit machen, und da erfaßt ihn selbst dieses erbarmungslose Räderwerk. Zu so tadellosem Funktionieren hat er es gebracht. Welch ein Erfolg! Was ihm das Mittel zur Allmacht war, hat ihn zu völliger Ohnmacht verurteilt. Seine "Künste" haben also jenen die Macht bereitet, die er selbst als "Menschewiks" und "Opportunisten" kritisiert. Und darum Räuber und Mörder!

Vielleicht fängt Trotzki jetzt an, etwas weniger verächtlich von der Demokratie zu denken.

Daß ein Mann wie Trotzki so rasch und mühelos beseitigt werden konnte, der, trotz aller seiner Schwächen, seine bolschewistischen Gegner doch weit überragt, und der für ihr Staatswesen so viel geleistet hat, ist höchst überraschend. Daß Patroklus und selbst Achilles fallen und Thersites zurückkehrt, ist zwar in der Geschichte schon oft vorgekommen; ja es hat sich nicht selten ereignet, daß in einem Duell zwischen Thersites und Achilles der erstere durch irgendeinen schmutzigen Kniff siegte. Aber daß Achilles den Thersites zum Zweikampf herausfordert und dann bei dem ersten Zeichen des Widerstandes kampflos vor ihm die Waffen streckt – das ist in der Geschichte kaum jemals dagewesen. Und ebensowenig wird es sich je ereignet haben, daß das ganze Heer der Kampfgenossen sich fast einmütig hinter Thersites stellt und beifällig zustimmt, wenn Achilles in die Verbannung geschickt wird. Diese Erscheinung ist ein bedenkliches Symptom innerer Schwäche des Bolschewismus. Sie erscheint um so bedenklicher, als sie wohl die auffallendste, aber keineswegs die einzige ihrer Art ist. In einem so sehr verfallenden Gemeinwesen wie Sowjetrußland sind Zwistigkeiten zwischen den Mitgliedern der herrschenden Kaste unvermeidlich. Aber jeder Versuch eines der bisherigen Vorkämpfer der kommunistischen Partei, an der Regierung Kritik zu üben, endete bis nun stets damit, daß der Kritiker an irgendeinen Ruheposten versetzt und zum Schweigen verurteilt wurde. Und jeder von ihnen hat das ruhig hingenommen.

Das bezeugt, daß das Medusenhaupt des Terrors und der Tscheka nicht nur die Masse der Bevölkerung versteinert, es scheint auch in denjenigen, die es in ihren Händen halten, alles selbständige Leben zu ertöten. Es verwandelt die Vorkämpfer der herrschenden Partei selbst in Knechte und Kreaturen.

Das ist sehr bequem für die jeweiligen Machthaber, solange alles glatt geht. Aber wehe, wenn das herrschende Regime in eine Krise hineingerat, die seinen Bestand bedroht. Es wird sich dann vergeblich nach Verteidigern umsehen. Glaubt man, daß diejenigen, die einen Trotzki ohne ein Wort des Widerspruchs fallen ließen, ihr Leben einsetzen werden, wenn es einmal gelten sollte, etwa einen Sinowjeff zu retten?

Die mühelose Überwindung Trotzkis zeigt, daß das Regiment des Bolschewismus in seinen Reihen kaum noch aufrechte Männer aufweist. Es ist ein Koloß auf tönernen Füßen, der keine ernsthafte Krise mehr zu überdauern vermag, der aber auch keiner Regeneration von innen heraus fähig ist.

Die erste tiefgehende Krise, in die er hineingerät, muß zu seiner Katastrophe werden.